Kumbh Mela — Wo Millionen ihren Glauben feiern. 
Die Kumbh Mela ist das größte religiöse Fest der Welt – ein Ereignis, das ich mit allen Sinnen erleben wollte. Millionen Gläubige strömen zum Ganges, um sich zu reinigen, begleitet von Ritualen, Farben und tiefer Spiritualität. Im Januar 2010 reiste ich nach Haridwar. Was ich dort erlebte, war keine gewöhnliche Reise, sondern eine Begegnung mit einer anderen Welt – voller Mystik und Intensität.

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Ankunft in Haridwar, der Gottespforte.

Dass mein Aufenthalt in der Pilgerstadt Haridwar im Januar 2010 ein Besonderer werden würde, spürte ich bereits auf dem Weg dorthin. Ich war von Frankfurt aus nach Delhi geflogen, hatte von dort einen Schnellzug in den Norden genommen und kam fünf Stunden später am Bahnhof von Haridwar an. Aber eines wunderte mich: Es war dort gar nicht so betriebsam wie sonst.

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Gläubige am Gleis: Am Bahnhof beginnt die spirituelle Reise.

Noch dazu war keiner der Rikscha-Fahrer vor dem Gebäude bereit, mich und mein Gepäck in mein Hotel zu bringen, obwohl es nur 15 Gehminuten entfernt lag. Erst nachdem ich eine extrem hohe Summe anbot, erklärten sich zwei Träger bereit, mir zu helfen. Sie luden das Gepäck auf ihre Schultern und liefen los – zu Fuß. Bald schon begriff ich auch, warum sich die Rikscha-Fahrer geweigert hatten, mich mitzunehmen: Bereits nach wenigen Schritten steckten wir einer Menschenmasse fest und kamen nur noch zentimeterweise voran.

Schließlich war ich nicht der Einzige, der auf die Idee gekommen war, zur weltberühmten Kumbh Mela nach Haridwar zu fahren. Um genau zu sein, war ich einer von 50 Millionen Besuchern, die 2010 an dem Hindufest teilnahmen, das als größtes spirituelles Fest der Welt gilt. Was solch eine Menge an Heiligen, Pilgern und Schaulustigen in einer Stadt bedeutet, die damals etwa 220.000 Einwohner hatte, kann man sich lebhaft vorstellen.

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Die Parade der heiligen Männer.

Gemeinsam mit den Trägern geriet ich in die Ausläufer des Einzugs der Sadhu Akharas – einer langen Parade heiliger Männer, die sämtliche Wege blockierten. Am Rande der Straßen standen unzählige Menschen, gefesselt vom Anblick des Schauspiels der „Naga Sadhus“, die komplett nackt oder nur mit spärlichen Lendenschurzen bekleidet durch die Gegend zogen.

Manche ritten stolz und erhaben auf Pferden oder Kamelen, andere waren zu Fuß zur heiligen Stätte am Ganges gepilgert. Manche trugen ihre Haare als Dreadlocks, die fast bis zum Boden reichten. Wieder andere waren mit spitzen Dreizacken oder scharfen Drahtgestellen unterwegs, mit denen sie gefährlich schnelle Darbietungen in unmittelbarer Nähe zu den Menschenmassen boten.

Ihre Geschicklichkeit und Körperbeherrschung waren beeindruckend. Die Blaskapellen und das Gehupe von Autos und Tuk-Tuks im Hintergrund schienen sie noch anzufeuern. Dudelsack-Spieler sorgten für eingängige Rhythmen und zwischen ihnen traten auf langen Stelzen tanzende Akrobaten auf.

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Pilgerströme und prominente Gurus.

Als nächstes erblickten wir einige der berühmtesten Gurus Indiens, die auf blumengeschmückten LKWs saßen, dicht gefolgt und umschwärmt von einer gigantischen Schar von Anhängern, die jubelten, klatschten und staunten. Kaum angekommen in Haridwar, war ich bereits in einem Spektakel gelandet, das wirkte, als sei es nicht von dieser Welt. Erst nach über zwei Stunden in der Menschenmengen erreichten die beiden Träger und ich schweißgebadet mein Hotel – und ich verdoppelte aus lauter Dankbarkeit erst einmal ihren Lohn.

Das Hotel indes erwies sich als erstklassige Wahl. Denn es lag mitten in der Altstadt. Der Ganges war gleich um die Ecke und auch das Zeltlager der Juna Akhara-Sadhus, eines der größten Sadhu-Orden Indiens, lag nur zehn Minuten zu Fuß entfernt.

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Kumbh Logistik: Wie organisiert man ein Fest für Millionen?

Da in jenen Tagen und Wochen Menschen aus allen Teilen Indiens zu Fuß, per Bahn oder Bussen nach Haridwar strömten, waren überall in der Stadt riesige Zeltstädte mit sanitären Anlagen aufgebaut. Auch die Zeltstädte außerhalb der Stadt, unweit des Ganges-Ufers, schienen bis zum Horizont zu reichen. Und an vieles war gedacht: Es gab extra Zelte, die als Krankenstationen dienten, in denen Menschen Tag und Nacht behandelt werden konnten. Und es gab Unterkünfte für verlorengegangene oder verwirrte Menschen sowie Ruheräume. An vielen Orten wurden auch kostenlos Speisen verteilt.

Zugleich sorgten Kamerasysteme sowie unzählige Polizisten und Soldaten dafür, die Menschenströme zu lenken, den Überblick und auch die Disziplin zu wahren. Immer wieder wurden spontan bestimmte Straßen oder Brücken über den Ganges gesperrt. Dann gab es in der Stadt kein vor und zurück mehr. Und aus den Tausenden blechern klingenden Lautsprechern auf den Straßen oder Plätzen schallten bald nicht nur religiöse Gesänge, sondern auch Informationen oder Anweisungen. Das Militär zeigte sich übrigens nicht immer zimperlich im Umgang mit den Menschen. Allerdings war es auch schwer einzuschätzen, ob es vielleicht nötig war. Schließlich kommt es auf Veranstaltungen diesen Ausmaßes allzu leicht zu Massenpaniken. Aber glücklicherweise erlebte ich keine.

Was ich hingegen beobachtete, war, wie Gurus in großen, opulent geschmückten Zelten Vorträge hielten. Daneben Schilder, die für ihre Sekte warben. Schließlich dient die Kumbh Mela nebenbei als ein Ort, an dem neue Schüler angeworben und in die jeweiligen Gemeinschaften eingewiesen werden.

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Eintauchen im Ganges - Ein Bad in Unsterblichkeit.

Überhaupt lohnt es sich, ein paar Worte zur Kumbh Mela und ihrer Bedeutung zu verlieren. Wörtlich übersetzt bedeutet Kumb Mela soviel wie „Fest des Kruges“. Das geht auf die Gründungslegende zurück, die in etwa so geht: Zu Beginn der Menschheitsgeschichte machten sich Götter und Dämonen unter immenser Anstrengung daran, den sogenannten Milchozean aufzuquirlen, um den Nektar der Unsterblichkeit (Amrita) aus dessen Tiefen hervorzuholen.

Schließlich erschien Dhanvantari, der Arzt der Götter, mit einem Krug voll des Nektars in der Hand. Doch zwischen den Göttern und den Dämonen entbrannte Streit. Deshalb schnappte sich der Sohn des Gottes Indra den Krug und entfloh damit ins All. Vier Tropfen des Nektars fielen dabei auf die Erde – und zwar auf die seither heiligen Stätten Allahabad, Haridwar, Nasik und Ujjain, wo im Wechsel alle drei Jahre die Kumbh Mela stattfindet.

Für viele gläubige Hindus ist es wichtig, einmal im Leben an einer Kumbh Mela teilgenommen zu haben. Für die Sadhus sind die Feste, bei denen das Bad im Ganges eine besondere Rolle spielt, geradezu Pflicht. Nicht nur befreit sie das Bad an bestimmten Orten im Ganges gemäß ihres Glaubens von Sünden. Die Wirkung ist umso höher, wenn die Gestirne, wie bei der Kumbh Mela, in bestimmten Konstellationen zueinanderstehen. Außerdem manifestiert sich ihrem Glauben zufolge in dieser Zeit und an diesen Orten der Nektar der Unsterblichkeit, die Amrita, im Wasser. Wer dann im Ganges badet, nimmt quasi ein Bad in Unsterblichkeit.

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Massen, Mysik und Hingabe.

Mich hatte vor allem die Atmosphäre dieses besonderen Festes angezogen. Ich wollte einmal selbst miterleben, wie es ist, Teil dieser mystischen Massenerfahrung zu sein.

Tagsüber drängten sich in den engen Altstadtgassen Haridwars unzählige Menschen. Überall wurde Streetfood angeboten, Lassis, Süßigkeiten, aber auch Devotionalien. Natürlich ist so ein Fest nebenbei auch ein großer Markt. Ich ließ mich treiben und betrachtete das Spektakel um mich herum immer wieder mit neugierigen Augen. Dann legte ich mich erst einmal schlafen.

Doch ich erwachte schon früh am nächsten Morgen. Es war gegen 4 Uhr, als ich seltsame, fast unheimliche Geräusche vernahm. Schlurfende Schritte und leises Gemurmel hallten durch die Altstadtgassen. Als ich aus dem Fenster sah, erblickte ich eine nicht endende Menschenmasse, die wie Schlafwandler zum Ufer des Ganges strömten. Unzählige Pilger machten sich kurz vor Sonnenaufgang auf den Weg zum heiligen Bad. 

Ich griff zu meiner Kamera und schloss mich ihnen an. An den sogenannten Ghats, den Böschungen und Stufen, die zum Ganges führten, spielten sich bald unglaubliche Szenen ab. Einmal erblickte ich beispielsweise eine junge Frau, die markerschütternd schrie und sich immer wieder wie in Ekstase mit erhobenen Händen in den Ganges tauchte. Anschließend fiel sie schluchzend in die Arme einer älteren Frau. Das zu sehen, berührte mich tief, auch wenn mir verborgen blieb, was ihr Schicksal war.

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Erlösung im eiskaltem Wasser.

Immer weitere Gläubige pilgerten zum berühmtesten Ghat in Haridwar – dem Har Ki Pauri Ghat. Brahmanen in kleinen Buden führten bezahlte private Zeremonien durch. Manche Pilger ließen sich vor Ort auch ihre Köpfe rasieren. Mich fröstelte. Im Januar war es nachts und früh morgens noch empfindlich kalt. Es gehörte große Entschlossenheit dazu, sich in die eiskalten Fluten zu werfen.

Aber Entschlossenheit und ein besonderer Zauber herrschte allerorten. Nicht nur am frühen Morgen. Auch abends, wenn die Gläubigen zum Sonnenuntergang am Ganges Puja feierten, das Fest der Hingabe. Große brennende Kerzen aus Ghee, also geklärter Butter, wurden auf riesigen Leuchtern hin und her geschwungen. Es wurde gesungen und die Massen standen dicht gedrängt an, um die Flamme der geweihten Feuer zu berühren. Anderswo wurde Milch in den Ganges gegossen und viele Gläubige setzten winzige Boote, gefaltet aus Blättern mit Kerzen, in die Strömung des heiligen Flusses, um ihm ihre Wünsche anzuvertrauen. 

Ich wohnte all diesen Szenen als faszinierter Beobachter bei und fühlte mich diesen Menschen und diesem Land plötzlich sehr nah und gar nicht mehr fremd. Für einen kurzen Moment erfasste mich sogar das Gefühl, tief in die Seele der Menschheit zu blicken. 

Weiterreisen ...

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Sadhus — Indiens wandernde Asketen. Auf meinen ersten Indienreisen Anfang der 1970er Jahre war mir anfangs noch alles unvertraut. Der Verkehr, die Gerüche, das Essen, die Sprache, die Art sich zu kleiden und geben – die gesamte Explosion an Eindrücken, Farben, Gesten, Geräuschen. Aber gerade das reizte mich. Und besonders zogen mich die Sadhus in ihren Bann – so fremd die heiligen Männer und ihre Lebensweisen mir auch waren.

Helmut Haase

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