Sadhus — Indiens wandernde Asketen. Auf meinen ersten Indienreisen Anfang der 1970er Jahre war mir anfangs alles noch unvertraut. Der Verkehr, die Gerüche, das Essen, die Sprache, die Art sich zu kleiden und geben – die gesamte Explosion an Eindrücken, Farben, Gesten, Geräuschen. Aber gerade das reizte mich. Und besonders zogen mich die Sadhus in ihren Bann – so fremd die heiligen Männer und ihre Lebensweisen mir auch waren.

1973: Meine erste Begegnung mit den Heiligen Männern.
Als besonders fremd, und deshalb umso faszinierender, empfand ich die Sadhus – die heiligen Männer (es gibt auch Frauen, aber nur wenige), die sich in extremer Askese übten. In Haridwar und Rishikesh, jenen Pilgerstätten am Fuße des Himalayas, begegnete ich ihnen 1973 zum ersten Mal. Nackt und mit Asche eingerieben saßen sie vor kleinen Feuern, Duni genannt. Ihre Haare reichten oft bis zum Boden und waren verfilzt, ihre Blicke nicht selten entrückt, als befänden sie sich in anderen Sphären. Gläubige verneigten sich vor ihnen, berührten ihre Füße und gaben ihnen ein paar Rupien für einen Segen.
Asche auf der Haut und die Ewigkeit im Blick.
Unheimlich wurde es mitunter, wenn die Sadhus einen direkt anschauten. Oft trafen mich durchdringende Blicke, die in mir alle möglichen Gefühle auslösten – manchmal empfand ich Respekt oder Bewunderung, manchmal Mitgefühl, teilweise aber auch Abneigung oder sogar Furcht. Letzteres vor allem, wenn sie auf intensive Weise nach Geld verlangten. Heute weiß ich, dass es auch Scharlatane gibt. „Echte“ Sadhus betteln nie direkt und sind auch nicht aggressiv. Umso erleichterter bin ich, dass ich mich von den ersten Begegnungen mit falschen Asketen nicht abschrecken ließ, sondern weiter meiner Neugier folgte.


Denn in mir brannten Fragen: Was beschäftigte die heiligen Männer? Warum entsagten sie der Welt? Wie fühlten sie sich? Welche Art von Freiheit empfanden sie? Und war ihr Streben nach Moksha, Erlösung, wirklich all jene Mühen und Entbehrungen wert?
Zu gern hätte ich sie angesprochen. Aber uns trennten nicht nur Kultur-, sondern auch Sprachbarrieren. Und so beobachte ich zunächst vor allem aus der Ferne, wie sie, oft spärlich bekleidet, samt Stab und Bettelschale über Märkte zogen, an Straßenrändern oder vor Heiligtümern saßen.
Als ich 2010 das Glück hatte, das Kumbh Mela, das größte religiöse Fest der Welt zu besuchen, zu dem traditionell auch unzählige Wandermönche pilgern, kam ich ihnen schließlich näher.

Kumb Mela, Fest des Glaubens - und Treffpunkt der Asketen.
Während des Kumbh Mela, dem größten Pilgerfest der Welt, das alle drei Jahre an einem der vier heiligen Orte Indiens zelebriert wird, führte mich mein Weg ins Camp der Juna Akhada – einem der ältesten und ehrwürdigsten Mönchsorden des Hinduismus.
Eine besondere Verbindung entsteht. Und sie braucht kaum Worte.
Der Orden ist bekannt für seine strenge Disziplin und seine rigorosen spirituellen Praktiken. Ich sprach einen der dortigen Sadhus einfach an. Und obwohl er nur ein paar Brocken Englisch konnte, schafften wir es, uns miteinander zu verständigen Bei jenem Sadhu fühlte ich mich willkommen. Er und seine Feuerstelle wurden für mich zum Ankerpunkt.
Fotomission am heiligen Fluss: Meine Fotos öffnen Türen.
Von hier aus strömte ich aus, zog mit meiner Kamera umher auf den geschäftigen Straßen und dem gigantischen Gewusel des Festes und machte zahlreiche Porträts verschiedenster Sadhus. Über Nacht ließ ich die Filme entwickeln und überreichte den heiligen Männern am nächsten Tag Ausdrucke ihrer Porträts. Sie freuten sich darüber und so knüpfte ich immer weitere Kontakte.



Schweigegelübde und schmerzhafte Selbstbeherrschung.
Als ich eines Tages jedoch meinen Sadhu-Freund an seiner Feuerstelle aufsuchte und wie gewohnt ansprach, antwortete er nicht mehr. Stattdessen reichte er mir einen Zettel. Darauf stand, er habe ein Gelübde abgelegt und werde „sechs“ lang nicht mehr sprechen. Ich fragte: „Sechs Tage?“ – er verneinte. Auch bei sechs Wochen oder sechs Monaten schüttelte er den Kopf. Erst bei sechs Jahren bejahte er. Glücklicherweise verständigte er sich immerhin noch schriftlich oder per Handzeichen mit mir.
Auch von anderen Sadhus lernte ich bald darauf mehr über die Aufgaben, die sie sich selbst auferlegten, um ihre Hingabe unter Beweis zu stellen. Einige zeigten mir ihre „Yoga-Kunststücke“ – oder das, was sie darunter verstanden. Denn der Lotussitz oder extreme Asana-Positionen waren dabei noch das Harmloseste.
Ein nackter Baba, wie Sadhus auch genannt werden, wickelte sich beispielsweise einen Metallspieß um seinen Penis. Doch das war nicht alles: Er drehte ihn auch mehrfach herum und hängte einen etwa 20 Kilogramm schweren Steinblock daran. Ein anderer Sadhu demonstrierte seine Selbstbeherrschung auf ähnliche Weise – mit zwei Personen, die links und rechts auf dem Spieß standen.
Auch einem sogenannten „Khareshwari“ oder „Standing Baba“ lief ich über den Weg. Das sind Sadhus, die sich niemals hinlegen oder setzen. Dieser Sadhu stand seit vier Jahren ununterbrochen. Als ich ihn fragte, wie er das aushalten würde, sagte er mir, dass nur die ersten Tage, Wochen und Monate schrecklich gewesen seien. Inzwischen habe sich sein Körper daran gewöhnt. Er bot mir an, seine Beine zu umfassen. Das tat ich auch – und war schockiert. An seinen Schenkeln gab es keine weichen Stellen mehr. Es schien, als wären sie aus Stein. Vermutlich half ihm auch der Konsum von Cannabis. Manche Sadhus betrachten es als Mittel, um Gott zu erkennen oder ihm näher zu sein.
Die stille Kraft der Sadhvi, der Heiligen Frauen.

Irgendwann entdeckte ich zu meinem Erstaunen ein Camp, in dem sich ausschließlich weibliche Sadhus, genannt Sadhvi, befanden. Denn im Alltag begegnet man ihnen viel seltener. Vor ihren Zelten brannten keine Feuer, auch fehlte der Geruch von Haschisch. Ihre Präsenz bestand vor allem aus freundlicher Zurückhaltung.
Ganz anders dagegen der Auftritt des berühmten Gurus „Pilot Baba“. Bevor er Sadhu wurde, war er Oberstleutnant der Luftwaffe. Angeblich hatte ihn eine Nahtod-Erfahrung auf den spirituellen Weg geführt. Etwas aus seinem alten Lieben schien dennoch geblieben: Am Umzug der Sadhu Akharas nahm er mit großem Gefolge teil.

Das Weltliche hinter sich lassen.
Es gibt eben die unterschiedlichsten Sadhus und sicher führen auch die unterschiedlichsten Wege zur spirituellen Entwicklung. Ich habe gelesen, dass es in Indien etwa 400.000 Sadhus gibt. Man begegnet ihnen vor allem im Norden, in den heiligen Stätten wie Varanasi, Haridwar Nashik, Ayodhya, Mathura, Rishikesh, Badrinath, Vrindavan, Rameshwaram, Pushkar oder Puri. Bei einer Gesamt-Population von 1,4 Milliarden Indern sind 400.000 dennoch nicht viele.
Allzu Menschliches auf dem Weg Richtung Nirvana.
Ein würdevoller, mit unzähligen Ketten behangener Sadhu der Juna Akhara ignorierte damals zunächst meine Annäherungsversuche – dabei war er sehr fotogen. Er verharrte in seiner Unnahbarkeit. Also ignorierte ich ihn ebenfalls und beschäftigte mich mit den in der Nähe sitzenden Asketen. Es war wie ein Spiel zwischen uns.


In den Tagen darauf begann er schließlich, meine Aufmerksamkeit erst nur zu suchen und dann regelrecht einzufordern. Das war eine interessante Erfahrung. Ich hatte das Gefühl, dass er bewusst eine Rolle spielte, um mich für sich einzunehmen. Ich dachte: Auf eine Art spielen wir am Ende doch alle unsere Rollen – ob Sadhu oder nicht.
Einmal bekam ich sogar mit, wie in einem Camp ein falscher Sadhu enttarnt wurde. Eine aufgebrachte Menge übergab ihn der Polizei – und traktierte ihn zuvor noch mit Schlägen. Möglicherweise war es ein flüchtiger Krimineller. Denn es kommt manchmal vor, dass sich Gauner als Asketen ausgeben, um eine Weile unterzutauchen. Und natürlich gibt es auch einfach gewiefte Bettler, die sich bloß als Bettelmönche verkleiden. Schließlich gehört es in Indien zum Alltag, Sadhus mit Spenden zu versorgen. Daher ist es kein Wunder, dass sich unter ihnen auch Menschen finden, die im wahrsten Sinne des Wortes mehr „scheinheilig“ als heilig sind.
Überhaupt reifte in mir, je mehr ich mich mit den Sadhus beschäftigte, und je mehr persönliche Verbindungen ich zu ihnen aufbaute, ein interessanter Gedanke: Hatte ich es am Ende mit ganz normalen Menschen zu tun?
Manche praktizierten zwar besondere Formen der Hingabe, manche schienen auch durchaus erhaben. Bei anderen hingegen beobachte ich immer wieder allzu Menschliches, darunter Eifersucht, Egoismus, Gier oder Lust. Ob ich überhaupt einem Sadhu begegnete, der bereits im Nirvana angekommen war? Gute Frage, ich weiß es nicht!
All das tut meiner Faszination für sie aber keinen Abbruch. Zwar umweht sie für mich nicht mehr unbedingt der Nimbus des Besonderen. Aber ich begegne ihnen mit Freude und Respekt. Ich begrüße sie mit einem „Om Namo Narayan“ („Die Seele in mir grüßt die Seele in dir“) und kann eines mit Sicherheit sagen: Sie sind mir nicht mehr fremd.
Weiterreisen ...
Mein Hippie-Trail: Von Kassel über Kabul auf das Dach der Welt! Die Reise nach Indien war die große Sehnsucht meiner Generation. 1972, mit 22 Jahren nahm ich all meinen Mut zusammen, löste ich meine Wohnung auf, packte meinen Rucksack und stieg in den Zug – auf dem legendären Hippie-Trail Richtung Himalaya.
Helmut Haase
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