Winter in Goa — Von der Winterflucht zur zweiten Heimat. Ursprünglich zog es mich in den Norden Indiens. Doch ab 1975 wurde Goa für viele Jahre zum Winterziel für meine junge Familie. Im Popcorn-Business war in den kalten Monaten weniger los, viele Schausteller machten Winterpause. So entflohen wir dem Grau und der Kälte Deutschlands und tankten in dem Küstenparadies auf.


Goa. Ein Ort, der unser Leben prägte.
Goa ist der Teil von Indien, den ich am besten kenne, weil ich dort die meiste Zeit verbracht habe. Der kleinste Bundesstaat des Landes liegt an der Westküste zum Arabischen Meer und ist etwas größer als Luxemburg. Mehr als vier Jahrhunderte lang, von 1510 bis 1961, war er eine portugiesische Kolonie. Erst 1961 eroberten indische Soldaten Goa zurück und es folgte ein kultureller Wandel.
Als ich zehn Jahre später, 1971, auf dem Hippie-Trail über die Türkei, den Iran und Afghanistan erstmals nach Indien reiste, zog es mich noch nicht nach Goa. Ich wollte nach Delhi und Haridwar, an den Füßen des Himalayas. Auch meine zweite Reise 1973 führte mich noch in den Norden – nach Delhi und anschließend Nepal.
Im folgenden Jahr wurde ich Vater. Meine Frau und ich bekamen unseren ersten Sohn. Außerdem gründete ich einen Import-Export-Handel und begann, Popcorn- und Zuckerwatte-Maschinen sowie Mandel-Röster zu verkaufen. Meine Kunden waren Schausteller, die auf Jahrmärkten arbeiteten und Freizeitparks.
Dass diese stets eine Winterpause einlegten, kam uns gut gelegen: So konnten auch wir den grauen Wintern in der Heimat entfliehen. Ein Geschäftspartner aus Bangalore hatte mir Goa empfohlen. Also reisten wir ab 1975 als junge Familie dorthin und sollten dort viele Winter verbringen.

Bombay-Goa
per Schiffspassage
in den Süden.
Meist flogen wir bis Bombay. Von dort hatten wir die Wahl, entweder per Schiff oder mit dem Bus weiter gen Süden zu reisen. Zwei Mal wagten wir die 24-stündige Schiffspassage mit der Konkan Shakti, bei der man entweder auf den harten Holzplanken direkt an Deck übernachtete oder in den wenigen meist ausgebuchten Kajüten. Bis auf ein paar westliche Hippies und wir als junge Familie mit Kleinkind, waren vor allem Einheimische an Bord, die in der Metropole Bombay arbeiteten und nun heimfuhren.
Das Schiff war meist bis auf den letzten Platz belegt. Es wurden Planen aufgespannt, gegen die Sonne, die schonungslos aufs Deck knallte. Die Zeit auf dem Schiff verbrachte man meist dösend, in Gespräche mit anderen Reisenden verwickelt oder Karten spielend. Manchmal sahen wir auf dem Meer Delfine oder Wale auftauchen und kamen nach mehreren Stopps an unterschiedlichen Häfen schließlich in Panjim, der Hauptstadt Goas, an. Dort erwarteten uns ein buntes Treiben und tropisches Klima. Von Mitte Oktober bis Ende März regnet es nur selten in Goa. Die Temperaturen liegen meist um die 30 Grad und selbst das Meer ist warm wie eine Badewanne. Der Tourismus war 1975 noch kaum entwickelt. Es gab nur wenige Hotels, dafür aber einige Privatunterkünfte für nur ein bis drei D-Mark pro Nacht. Auch das Essen war für unsere Verhältnisse spottbillig. Allerdings mussten wir auf manchen Komfort verzichten: Kühlschränke gab es nur selten und statt Klimaanlagen nur Deckenventilatoren.

Hippies als Attraktion. Sie kamen aus aller Welt. Und sorgten für Staunen.
Viele Inder reisten damals nach Goa, weil der Verkauf von Alkohol dort recht liberal geregelt war. Eine weitere Attraktion waren die Hippies, die ab Ende der 1960er aus aller Welt nach Goa pilgerten und sich, freie Liebe propagierend, nackt an den Stränden von Baga, Anjuna, Vagator oder Arambol sonnten. Die gastfreundlichen Goaner nahmen die Hippies zunächst ohne Vorbehalte auf. Auch, wenn ihr Drogenkonsum, ihre Parties und ihre freizügige Lebensweise gegen alle gesellschaftlichen Regeln verstießen. Gruppen junger Inder schauten ihnen nicht selten staunend zu. Erst viele Jahre später wurden das Nacktbaden und der Drogenkonsum verboten.
Ich selbst fühlte mich damals den Hippies schon nicht mehr richtig zugehörig. Ich war nun Familienvater und Unternehmer und lebte ein anderes Leben. Ich beobachtete die Szene daher mit freundlicher Neugier, aber aus ein wenig Distanz. So kam es, dass ich die Hippies in Goa zum Teil mit meiner Kamera dokumentierte. Etwa, wenn sie sich mittwochs auf dem Flohmarkt in Anjuna trafen oder in der »German Bakery« von Baga Beach, die ein Aussteiger aus Kassel dort eröffnet hatte.


Anfangs fuhr ich mit meiner Familie nach Calangute im Norden Goas, das heute leider völlig von Touristen überlaufen ist. In den 1970ern war das anders: Damals ruderten die Fischer nachts mit ihren Holzbooten hinaus in die Arabische See und wurden am Morgen von ihren Familien am Strand begrüßt, wo sie den Fang teilten.

Ein Bild, das bleibt: Kobra-Alarm in Calangute.
Wir wohnten in den ersten Jahren im staatlichen Tourist-Resort-Hotel Calangute direkt am Strand. Einmal kamen wir dort vor der Tür mit einem Mann ins Gespräch, der uns Schlangenhäute verkaufen wollte. Wir baten ihn mit hinauf in unser Hotelzimmer und er folgte uns mitsamt seines großen Korbes. Darin allerdings hatte er zahlreiche Kobras, aber das sahen wir erst als wir oben waren.
Während wir also mit ihm über den Preis der Schlangenhäute verhandelten, richteten sich manche seiner Tiere auf. Das war zwar wunderschön anzusehen, aber wir hielten dennoch den Atem an. Vor allem, weil unser Schlangenbeschwörer, kaum Englisch sprach. So war es nicht leicht, herauszubekommen, ob die Tiere noch Gift in ihren Zähnen hatten… Aber es ging alles gut! Heute bleibt mir von diesem Erlebnis ein Bild von meinem Sohn neben einer aufgerichteten Kobra.



Tiracol, ein kleines Paradies und unsere zweite Heimat.
Eines Tages lernte ich in Calangute den Goanischen »Director of Tourism« kennen. Wir wurden Freunde und er erzählte uns von einer kleinen Enklave namens Tiracol, malerisch an der Grenze zu Maharashtra gelegen, mit nur 200 Einwohnern, sieben Bars und einer glorreichen Geschichte.
Das auf einem Felsen gelegene Fort wurde 1764 von dem Raja aus dem nahe gelegenen Sawantwadi erbaut. 1825 zog sich der in Goa geborene Freiheitskämpfer Dr. Bernando Peres da Silva dorthin zurück und behauptete sich viele Jahre gegen die portugiesische Besetzung. Inzwischen aber war das Fort Tiracol ein staatliches Hotel – und dieses wurde für die folgenden Winter von 1979 bis 1987 unser heiß geliebtes Quartier.


Da es damals sonst – im Gegensatz zu heute – nur wenige Touristen in Tiracol gab, bekamen wir schnell Kontakt zu den Einheimischen. Mit der Dorfjugend spielten wir Fußball gegen das Nachbardorf Querim, das auf der anderen Seite des Therekol-Flusses lag. Meine beiden Söhne – in der Zwischenzeit waren wir zum zweiten Mal Eltern geworden – fielen mit ihren blonden Haaren natürlich auf. Manche der Dorfbewohner nannten sie die Jungs mit den »goldenen Haaren«.



Auf Fischjagd — mit Taschenlampen und Keschern.
Den Fluss befuhr man mit Kanus, die aus Mangobäumen gebaut waren. Nachts gingen wir manchmal mit Keschernetzen und Taschenlampen auf Fischjagd. Einmal fingen wir so viele Fische, dass wir ein Fest für das ganze Dorf veranstalteten. Aus Mangel an Kühlschränken, um den Fang einzufrieren, verzehrten wir ihn alle gemeinsam noch in der gleichen Nacht.


Manche Erlebnisse dagegen waren weniger schön. Einmal lud mich ein Dorfbewohner ein, nachts mit ihm auf die Jagd zu gehen. Dabei erschoss er einen schwangeren Hundsaffen, der in seinen Bananenstauden hing.
Tagsüber machten wir Ausflüge. Wir reisten mit Fahrrädern oder per Motorrad durch das Land, vorbei an Sandstränden samt schäumender Brandung oder Reisfeldern und Palmenwäldern, den süßen Duft tropischer Blumen stets in der Nase. Häufig sahen wir Schlangen und Mungos. Wirklich in Acht nehmen, mussten wir uns aber vor allem vor den frei grasenden Zebu-Bullen, die aggressiv werden konnten, wenn man sich ihnen näherte.
Kamen wir unterwegs in kleine Dörfer, rannten uns die Kinder auf der Straße oft winkend hinterher und riefen »Hippie, Hippie« – so sehr hatte sich die Anwesenheit jeder langhaarigen Touristen aus aller Welt dort herumgesprochen.

Der Rhythmus einer anderen Welt.
Wir im Gegenzug sogen die Eindrücke dieser so gänzlich anderen Welt in uns auf und gewöhnten uns schnell an ihren Rhythmus und die tropischen Nächte. Auf dem Markt in Mapusa deckten wir uns mit Lebensmitteln ein und beobachteten eine hinduistische Heilige, die an einem mit Blumen geschmückten Altar saß und Händler und Marktbesucher an ihren Glauben erinnerte. In Goa schlossen wir über die Jahre zahlreiche Freundschaften, die teilweise bis heute bestehen. Und immer wieder warfen wir uns in die Wellen des Arabischen Meeres und wuschen allen Stress von Daheim ab.




Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass unsere winterlichen Fluchten nach Goa mir erst die Kraft gaben, mein Business mit den Popcorn-Maschinen so zu führen, wie ich es tat. Dadurch, dass ich in einer vollkommen anderen Welt auftanken und meinen Horizont immer wieder erweitern konnte, fand ich oft zu ungewöhnlichen Ideen, die ich Zuhause umsetzen konnte.
Weiterreisen ...
Mein Hippie-Trail: Von Kassel uber Kabul auf das Dach der Welt! Die Reise nach Indien war die große Sehnsucht meiner Generation. 1972, mit 22 Jahren nahm ich all meinen Mut zusammen, löste ich meine Wohnung auf, packte meinen Rucksack und stieg in den Zug – auf dem legendären Hippie-Trail Richtung Himalaya.
Helmut Haase
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